Wie kam ich dazu, mich mit dem Themenbereich Essstörungen klinisch und wissenschaftlich zu befassen?
Ab Juli 1975 war ich Stationsarzt auf der offenen psychiatrischen Station des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München. In dieser Funktion hatte ich auch die Neuaufnahmen zu regeln. Niedergelassene Ärzte riefen bei mir an, wenn Sie einen Patienten einweisen wollten. Zuvor war es selten, dass überhaupt magersüchtige Patientinnen oder Patienten zur Aufnahme kamen. 1975/76 und danach wurden immer mehr Magersüchtige zur stationären Behandlung angemeldet.
Damals bestand auf der Station die Regel, dass nicht mehr als eine Magersüchtige aufgenommen werden durfte, da mehr dieser Patienten die Station sprengen würden. Man hatte wenig Erfahrung, wie man Magersüchtige behandeln sollte. Man hatte Angst vor ihnen. Es wurden dann aber zwei, dann drei, dann vier, dann fünf. Wir alle lernten in dieser Zeit hinsichtlich der Behandlung sehr viel dazu. Die Ängste beim Pflegepersonal und den Ärzten und Therapeuten verringerten sich. Es war auch deutlich spürbar, dass paradoxerweise fünf Magersüchtige zusammen besser zu behandeln waren als eine. Die Patienten hatten das Expertentum der Betroffenen und waren die schärfsten Kritiker, wenn andere Magersüchtige auf Station das Behandlungsprogramm unterliefen.
Es war damals erschreckend, wie wenig weltweit an fundiertem Wissen hinsichtlich Ätiologie, Diagnostik und Verlauf existierte. 1979/80 wurde dann das Krankheitsbild der Bulimia nervosa definiert. 1984 machten wir von der Münchener Universität (LMU) aus deutschlandweit eine Umfrage zum Thema Bulimia nervosa und wurden überschwemmt von Betroffenen und gründeten in dieser Zeit die beiden Selbsthilfeorganisationen Cinderella - Aktionskreis Ess- und Magersucht e.V. und ANAD e.V. Nachdem ich ab Juli 1975 an einem Forschungsinstitut war und nachdem so extrem wenig über Entstehung, Behandlung und Verlauf von Essstörungen bekannt war, entschloss ich mich, in diesem Gebiet nicht nur klinisch, sondern auch wissenschaftlich zu arbeiten. Die Anregungen und Fragestellungen kamen aus der klinischen Praxis und die Antworten aus den Ergebnissen der Forschung.
Prof. Manfred M. Fichter