Die 1995 ausgezeichnete Arbeit leistet einen umfassenden theoretischen und empirischen Beitrag zum Verständnis und zur Therapie bulimischer Essstörungen.

Zunächst werden die vorhandenen empirischen Befunde zum Syndrom der Bulimie referiert und in einem psychobiologisch orientierten Rahmenkonzept zusammengefasst. In diesem Konzept wird angenommen, dass individuelle Vulnerabilitätsfaktoren auf psychologischer Ebene (zum Beispiel eingeschränkte Copingstrategien) und auf biologischer Ebene (niedriger Energiebedarf) im Zusammenwirken mit Umweltbedingungen (soziokultureller Schlankheitsdruck) zu Veränderungen des Essverhaltens führen, die charakterisiert sind durch extreme Bemühungen zur Gewichtsabnahme einerseits (zum Beispiel Fasten, Erbrechen) und exzessive Nahrungsaufnahme (Essanfälle) andererseits.

Als Basis für ein genaueres Verständnis der möglichen Determinanten von Essanfällen wird auf psychophysiologische Grundlagen der Regulation der Nahrungsaufnahme eingegangen.

Das Konzept der kognitiven Kontrolle der Nahrungsaufnahme (restrained eating) wird eingeführt. Ziel der kognitiv gesteuerten Einschränkungen des Essverhaltens ist es, das Körpergewicht auf einem möglichst niedrigen Niveau zu halten. Anhand der zu diesem Konzept vorliegenden experimentellen und klinischen Daten wird ein theoretisches Modell entwickelt, in dem postuliert wird, dass die Restriktionen des Essverhaltens langfristig zu Störungen der normalen Regulation von Hunger und Sattheit führen, und unter Störbedingungen (zum Beispiel Stress) mit hoher Wahrscheinlichkeit Essanfälle auftreten.

Im empirischen Teil der Arbeit werden Hypothesen zur Relevanz hoher kognitiver Kontrolle der Nahrungsaufnahme überprüft. Dabei werden jeweils Frauen mit hoher und niedriger kognitiver Kontrolle der Nahrungsaufnahme verglichen. Bei den Frauen mit hoher Kontrolle tritt eine Nahrungsaufnahme analog zu Essanfällen wie bei der Bulimie signifikant häufiger auf. Ebenso finden sich bei diesen Frauen biochemische Indikatoren für eine akute physiologische Deprivation.

In einer kontrollierten Therapiestudie wird dann gezeigt, dass ein gruppentherapeutischer Therapieansatz, der spezifisch auf der Modifikation des gezügelten Essverhaltens bulimischer Patientinnen basiert, langfristig zu einer signifikanten Reduktion der Häufigkeit von Essanfällen führt.

Prof. Reinhold Läßle